Die Präfektur Ibaraki steht bei vielen Menschen sehr weit unten auf der Liste der sehenswerten Regionen. Dabei ist es egal, ob es sich dabei um die Menschen handelt, welche in Japan leben, oder jene, welche Japan von Übersee aus besuchen. Die Präfektur wird regelmäßig zur am wenigsten attraktiven Präfektur gewählt, wobei ich finde, dass sie diesen Titel zu Unrecht erhält.
Ich war nun bereits zwei Mal in der Region unterwegs und habe zahlreiche ihrer Facetten kennenlernen dürfen. Aus diesem Grund möchte ich sagen, dass sich ein Besuch in Ibaraki wirklich lohnen kann, vor allem, wenn man ein wenig abseits der Touristenströme unterwegs sein möchte und gleichzeitig interessante Orte erkunden will.
In diesem ersten Artikel widme ich mich der Präfektur Ibaraki im Allgemeinen und erzähle ein wenig von meinem Besuch in der Stadt Ishioka, welche sich selbst auch als Retro City bezeichnet.


Ibaraki – eine Präfektur für Natto-Liebhaber und Freunde des Nihonshu
Viele Menschen rümpfen bei dem Gedanken an die fermentierten Sojabohnen, welche Natto genannt werden, die Nase. Ihr strenger Geruch und ihr klebriges Erscheinungsbild sprechen nicht unbedingt für etwas, wo man sagen könnte, das Auge isst mit. Doch über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten und somit ist diese Speise eine der bekanntesten aus der Präfektur. Überdies kann man beim Anblick von Natto in Japan auch einen Blick in die Vergangenheit des Landes werfen.
Während in den meisten Teilen des Landes Natto gefüllt in kleine Packungen aus Styropor verkauft wird, wird in Ibaraki Natto oftmals in einer traditionellen Verpackungsform angeboten, nämlich eingewickelt in Reisstroh. Wer also auf der Suche nach dem unverfälschten Genuss ist, der sollte den Ausflug in die Präfektur nördlich von Tokyo unbedingt wagen. Vor allem in der Stadt Mito, der Hauptstadt der Präfektur, finden sich verschiedene traditionelle Hersteller von Natto, welche jeweils ihre eigenen Variationen dieses traditionellen Gerichts auf den Markt bringen. Der Hersteller Tengu Natto, betreibt ein Geschäft in der Nähe des Bahnhofs von Mito und gilt als eines der ersten Unternehmen, welche die Produktion von Natto standardisiert hat.
Aber auch in anderen Städten finden sich Hersteller mit einer langen Geschichte, welche sich auf die Herstellung von Natto spezialisiert haben und dabei hauptsächlich in Japan angebaute Sojabohnen verwenden. Bei einem Land, welches so viele Sojaprodukte zu bieten hat, mag das logisch klingen, doch werden ein Großteil der Sojabohnen, welche Japan für seine Nahrungsmittel benötigt, aus dem Ausland importiert, allen voran aus den USA.
Aber auch wenn man sich weniger für die fermentierten Sojabohnen interessiert, gibt es in der Präfektur zahlreiche Leckereien zu entdecken. Hier findet man z. B. viele noch heute auf traditionelle Weise arbeitende Sake-Brauereien und sogar eine der wenigen Sake-Brauereien, welche von einer Frau geleitet werden. In dem folgenden Video findet ihr ein sehr spannendes Interview mit Kyoko Nagano von Sake Lovers Inc. und Nobuko Inaba von der Brauerei Inaba Shuzo. Das Video wird in Japanisch geführt, bietet aber leicht verständliche Untertitel in englischer Sprache.
Die Landschaft lädt zum Fahrradfahren ein
Im Gegensatz zu vielen anderen Regionen in Japan, hat Ibaraki sehr viel flaches Land zu bieten, über das man sehr weit blicken kann. Angesichts dessen ist die Region in zahlreichen Büchern und Heften, welche sich mit Radtouren in Japan befassen, zu finden. Nicht nur kann man problemlos mit dem Fahrrad von den Bergen bis an die Küstenlinie der Präfektur fahren, sondern man kann auch beinahe 100 km um den See Kasumigaura fahren.
An zahlreichen Orten können hier Fahrräder, E-Bikes und sogar Tandems gemietet werden, um allein oder gemeinsam mit Freunden und Familie eine schöne Zeit zu verbringen. Wir haben bereits unseren Trip mit dem Tandem vorgeplant und werden davon in einem anderen Artikel berichten.
Es gibt auch Enthusiasten, welche von Tokyo aus bis hoch nach Ibaraki und im Anschluss daran durch die gesamte Präfektur hindurch einen Trip unternehmen. Wo der Shimanamikaido wohl eine der bekanntesten Strecken für Fahrradliebhaber ist, ist die Route um den Kasumigaura herum, zwar weniger bekannt bei den Massen, doch nicht weniger charmant.
Susann und ich haben bereits das ein oder andere Abenteuer auf dem Fahrrad in Japan erlebt. Eines der heftigsten war unsere Teilnahme am Fuji Longride, über den wir auch einen passenden Artikel verfasst haben.
Die Stadt Ishioka – eine Retrostadt aus der Taisho Zeit
Wer an Japan und seine historischen Gebäude denkt, der denkt womöglich hauptsächlich an solche aus der Edozeit, doch auch wenn diese Bauwerke, zu den prägendsten aus der Geschichte des Landes gehören, hat die japanische Geschichte noch viel mehr zu bieten.
Die Stadt Ishioka repräsentiert anhand ihrer Bauwerke primär die Taisho-Zeit, welche vom Kaiser Tennō Yoshihito regiert wurde. Diese Periode ging von 1912 bis zum Jahr 1926. Die Zeit wird auch als die Zeit der japanischen Taisho-Demokratie bezeichnet. Sie liegt zwischen der chaotischen Meji-Zeit, in welcher sich das Land für den Westen öffnete, und der kriegerischen Showa-Zeit. Die Taisho-Zeit gilt als eine Periode, in welcher die Kontrolle des Landes von den hart gesottenen Traditionalisten mehr in Richtung der demokratischen Parteien gerückt wurde.


Die Fassaden der Häuser sind das, was einem als Erstes auffallen wird, sobald man entlang der Hauptstraße spazieren geht. Diese Form der Architektur wird auch als Billboard-Architektur bezeichnet. Hierbei wird die originale Architektur des Gebäudes mithilfe von Zement und anderen Werkstoffen verdeckt und oftmals mit verschiedenen Ornamenten versehen. Die Taisho-Zeit zeichnet sich hauptsächlich durch ihre kupfergrüne Farbe aus, welche noch heute an vielen Gebäuden aus dieser Zeit zu sehen ist. Durch diese Architektur kann man schon einmal das Gefühl bekommen, sich in einer Stadt aus Puppenhäusern zu befinden.
Traditionelle Taschen und mehr im Suzumeya
Bei meinem Trip nach Ishioka sind mir vorrangig zwei Ereignisse im Gedächtnis geblieben. Als Erstes sei hier der Besuch im Geschäft Suzumeya, was übersetzt Spatz bedeutet, zu erwähnen. Suzumeya hat sich auf die Herstellung von Taschen und ähnlichen Artikeln spezialisiert, mit einem Druck auf Basis der Edo Komon Technik. Diese Technik ist, wie der Name bereits sagt, in der Edo-Zeit entstanden und besticht vordergründig durch seine feinen Muster und Strukturen, welche die Ästhetik und die Philosophie dieser Zeit widerspiegeln.


Das Spannende an diesem Laden waren jedoch gar nicht die zahlreichen Taschen, welche von Männern und Frauen oft bei Festen getragen werden, sondern die Besitzerin, welche gerade an der Nähmaschine gesessen hatte, als wir den Laden betraten. Nach einer kurzen Weile kamen wir mit der Dame ins Gespräch und sie erzählte uns zuerst noch ein wenig schüchtern von der Geschichte dieser Taschen und wann sie in der Regel getragen werden.
Mit der Zeit kam sie jedoch immer weiter aus sich heraus und begann mit voller Begeisterung über die geschichtliche Bedeutung der einzelnen Taschen und ihrer Muster zu sprechen. Es hatte den Anschein, als kannte sie die genaue Bedeutung jedes Musters und konnte uns interessante Fakten, aber auch kleine Geschichten dazu erzählen. Hier bekam man umgehend das Gefühl, dass die Dame ihren Beruf und ihre Werkstoffe wirklich aus ganzem Herzen liebt und so wurde der Besuch in diesem Geschäft eine richtig persönliche Erfahrung.
Mehr über diesen kleinen Laden und seine zahlreichen Produkte findet ihr auf der offiziellen Webseite. Diese ist zwar komplett auf Japanisch ist, dennoch findet man hier zahlreiche schöne Fotos zu den angebotenen Artikeln.


Eine Reise in die alte Zeit im Machi Kura Ai
Die Stadt Ishioka in Ibaraki hat aber nicht nur Bauwerke aus der Taisho-Zeit zu bieten. Wir hatten noch ein weiteres spannendes Erlebnis, welches uns in die alte Edo-Zeit entführte. Während wir weiter die Straße des alten Ibaraki entlang spazierten, fiel uns ein Laden auf, welcher allerlei Krimskrams angeboten hatte. Vor allem konnte man hier Süßigkeiten und auch kleinere Spielsachen erwerben.
Vereinzelt waren die Süßigkeiten in Boxen mit einem gläsernen Deckel aufbewahrt, welche ein wenig an eine kleine Eistruhe erinnerten. Hierbei lernte ich, dass das Gefühl diese Boxen selbst zu öffnen, um die Süßigkeiten selbst herauszunehmen, viele Menschen an ihre Kindheit erinnert, als sie sich mit ihrem Taschengeld im örtlichen Laden Süßigkeiten gekauft haben.
Dieser Laden hatte aber noch weitere Besonderheiten. Abgesehen davon, dass noch heute die originale Struktur des Gebäudes und seiner Räumlichkeiten bewahrt wird, blickt dieses Haus auch auf eine lange Geschichte des Handwerks der Stofffärbung zurück. Angesichts dessen ist der Name dieses Gebäudes auch Machi Kura Ai (まち蔵 藍), was die Kanji für Lagerhaus und das Kanji für Indigoblau enthält. Wer Interesse hat, kann hier auch an verschiedenen Workshops zum Thema Einfärben von Stoffen teilnehmen.
Nach einem kurzen Gespräch mit den Besitzern wurden wir dazu eingeladen, das Gebäude zu besichtigen. Durch eine Seitentür betraten wir den hinteren Wohnbereich des Hauses. Hier fühlte man sich umgehend in die Zeit zurückversetzt. Alles war, als wäre die Zeit vor vielen Jahren stehen geblieben. In der Mitte des Raumes befand sich eine klassische Feuerstelle mit einem alten Teekessel darauf. Direkt darüber befand sich für den Abzug des Rauches eine Luke im Dach, welche in der Form, wie man sie hier vorfindet, jedoch eher aus der Meiji¥-Zeit stammt. Ferner ist die Luke heute natürlich mit einem Glas verschlossen.
Ein kleiner Schrein, wie man in vielen Gebäuden aus dieser Zeit vorfinden kann, befand sich über uns in einem Fach in der Wand. Hier befand sich auch eine alte Ladenkasse, bei welcher man auch die innere Mechanik bewundern konnte, wenn man sie öffnete. Uns wurde auch erklärt, dass man sie nur mithilfe einer speziellen Technik öffnen konnte, ohne dabei ein Klingeln zu verursachen. Bei dem Versuch eines Diebstahles gab die Kasse ein deutliches Signal von sich und somit war ein unerkanntes Entwenden des Geldes kaum möglich.


Durch eine schmale Tür gingen wir dann in das Obergeschoss und hier musste man schon aufpassen, sich nicht regelmäßig den Kopf an den dunklen naturbelassenen Holzbalken zu stoßen. Hier im Obergeschoss befanden sich verschiedene klassische Geräte für die Hausarbeit, sowie Schränke und Truhen, welche primär von der besser betuchten Bevölkerung genutzt wurden, um ihre Habseligkeiten zu beschützen.
Eines der Fenster im Obergeschoss hatte wie in der alten Zeit nicht einmal Gläser und man demonstrierte uns, wie man bei windigem Wetter die offenen Luken mithilfe von mit Papier bespannten Holzgittern abdeckte. Diese wurden einfach in einen Rahmen geklemmt und hielten so einen großen Teil der kalten Luft von draußen ab. Sollte es darüber hinaus stark regnen oder gefährlich stürmen, waren es Holzbretter, welche hier genutzt wurden, um die offenen Fenster zu schließen.
Diese Besichtigung steht jedem Besucher offen und man hat hier auch die Möglichkeit, einen traditionellen Tee zu genießen, wenn man sich noch authentischer in die Vergangenheit ziehen lassen möchte. Weitere Informationen zum Machi Kura Ai und viele Fotos findet man auf ihrer offiziellen Ishioka Tourismus Webseite.


Das Ishioka Matsuri
Bevor die Präfektur den heutigen Namen Ibaraki bekam, nannte man diese Region Hitachi und die Stadt Ishioka war ihre Hauptstadt. Die Stadt selbst blickt dabei auf eine Geschichte von beinahe 1300 Jahren zurück, was bis auf Zeit zurückgeht, als der Regierungssitz des Landes noch in der Stadt Nara beheimatet war. Die Stadt Ishioka war zu dieser Zeit das Zentrum der Regierung, sowie der Kultur des heutigen Ibaraki.
Eine der offiziellen Pflichten des Gouverneurs von Hitachi war es, dass er für den Frieden und die Ruhe der Region und die Menschen am Hitachi no kuni Sosha-gu Schrein beten musste. Diese Tradition, welche an diesem Schrein seinen Anfang nahm, entwickelte sich zum heutigen Ishioka Matsuri, welches zu den größten Festen der Kanto-Region gehört.
Obwohl an diesem Fest jährlich tausende Menschen teilnehmen, ist es bei den Besuchern aus dem Ausland weitgehend unbekannt. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich das Ishioka Matsuri in Ibaraki immer weiter und so wurde in der Edo-Zeit damit begonnen, Sumo Ringkämpfe im Zuge dieses Festes auszutragen. Mit dem Anfang der Meiji-Zeit begannen außerdem die wohlhabenden Händler aufwendig dekorierte und imposante Festwagen auszustellen, welche bis heute ein wichtiger Teil dieser für Ibaraki wichtigen Festivitäten ist.
Zu dieser Zeit begann man auch, das Fest zu einem jährlichen Spektakel auszuweiten, bei dem jedes Jahr 2000 Menschen im Zuge einer religiösen Zeremonie die tragbaren Schreine (Mikoshi) trugen, umringt von Tänzern im Shishi Löwen Kostüm. Das Fest selbst beginnt am 15. September um 10:00 Uhr morgens am eigentlichen Schrein. Diese Durchführung von Riten wird als Reisai bezeichnet.
Im Anschluss findet das Jinkosai statt. Dabei wird der wichtigste Mikoshi zu der in diesem Jahr für das Fest verantwortlichen Nachbarschaft getragen. Hinzu kommt ein beeindruckender Horojishi. Dieser Löwentanz in Ibaraki ist nämlich selbst für japanische Verhältnisse sehr beeindruckend. An dem Löwenkostüm selbst ist eine tragbare Schrein-Struktur angebracht und der Kopf des Löwen selbst hat eine Größe von bis zu 60 Zentimetern und ein Gewicht von 30 Kilogramm. Jede Nachbarschaft hat hierbei seine eigene Version der Horojishi Maske, welche sich optisch deutlich voneinander unterscheiden.
Im Anschluss an das Jinkosai findet das Hoshukusai statt. Während die Festwagen, auch Dashi genannt, und die tragbaren Schreine an einem Ort zusammenkommen, finden rituelle Sumokämpfe statt, welche eine Mischung aus Kampfsport, Tanz und ritueller Musik sind. Im Anschluss der mitreißenden Festivitäten werden die Mikoshi im Zuge der Kankosai Prozedur zurück zum Hauptschrein gebracht.
Parallel zu den Hauptaktivitäten, werden für die Besucher entlang der Straßen zahlreiche weitere Events veranstaltet, welche Kunst, Tradition und Handwerk miteinander verbinden. Viele weitere spannende Informationen in englischer Sprache findet man auf der offiziellen Webseite des Ishioka Matsuri.
Video: Ausflug in die Präfektur Ibaraki
Abseits der ausgetretenen Pfade
Viele Menschen wünschen sich, ihre Reisen abseits der bereits ausgetretenen Pfade zu unternehmen, doch oftmals hat man das Gefühl, dass diesem Wunsch Angst vor Langeweile, und auch ein wenig die Bequemlichkeit im Weg steht. Die Präfektur Ibaraki ist nicht gar nicht so weit von Tokyo entfernt und wer wirklich einmal einige weniger bekannte Aspekte der japanischen Kultur kennenlernen sollte, der sollte sich wirklich einmal trauen, Ibaraki einen Besuch abzustatten. Bei meinem mehrtägigen Trip durch Ibaraki habe ich noch weitere Regionen besucht, über welche ich an anderer Stelle noch einmal mehr schreiben werde.
Die offizielle Tourismus Webseite von Ibaraki bietet darüber hinaus viele detaillierte Informationen und Tipps, wie man seinen Urlaub in dieser Region gestalten kann.